Ein Leben, viele Bücher

Sabine Rädisch

Wer liest oder selbst Geschichten schreibt, kann viele Leben leben, kann Dinge innerlich ausprobieren und durchfühlen. Dieses Eintauchen in fremde Innen- und Außenwelten erschien mir von Kindheit an verlockend. Das eine Buch, das mich geprägt hat, gibt es daher nicht. Vielmehr habe ich wechselnde Lese-Vorlieben, die gerade zu der jeweiligen Lebensphase passen. In frühester Kindheit waren es Bilderbücher wie Das Auto hier heißt Ferdinand. Erst jetzt stelle ich fest, dass es von Janosch ist - Name und Bekanntheitsgrad des Autors oder Illustrators waren mir als Drei- oder Vierjährige wohl noch ziemlich egal :-)

 

Später ging es weiter mit Ronja Räubertochter, mit den Fünf Freunden oder Anne of Green Gables. Es folgten Unterhaltungsromane der damaligen Zeit, die meine Mutter gerne las, wie zum Beispiel die Poenichen-Trilogie von Christine Brückner, in der sich die Fluchterfahrungen meiner eigenen Familie spiegelten. Und natürlich las ich mich auch durch die Gemeindebücherei und die Schulbibliothek, durch Biografien von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Martin Luther King und Marilyn Monroe. Dann amerikanische Erzähler*innen und englische Krimis.

 

Es sind ganze „Buchfamilien“, die mein Lesen, Leben und Schreiben geprägt haben – in dem Sinne, dass die Bücher eine thematische Verwandtschaft miteinander aufweisen. Und in einem weiteren Sinn: Bücher, die wie gute Freunde sind. Mit denen man eine schöne Zeit verbringen, lachen und weinen und am Leben der Figuren Anteil nehmen kann. Auch fantastische Geschichten faszinierten mich, wie Das Mädchen mit dem Kupferhaar von Brigitte Kaufmann: Ein Jugendbuch, das schätzungsweise um 1985 unter dem Weihnachtsbaum lag und das ich noch in der Nacht verschlang. Kennt das noch jemand? Da geht es um ein Mädchen, das gegen die Herrschaft der Computer auf ihrem Planeten rebelliert und sich für ein Leben in der Natur entscheidet. Die Geschichte des Aufbegehrens, mit der ich mich damals gut identifizieren konnte.

 

Das Genre Science Fiction sollte meine frühen Schreibversuche prägen: Jahrelang schrieb ich so etwas wie Captain-Future-Fan-Fiction und hatte sogar eine eigene kleine Fangemeinde in der Schule! Ich schrieb mit Bleistift in Schulhefte oder kleine Buchkalender. Was eben gerade so verfügbar war. Ich schrieb so, wie ich las, ließ die Geschichte einfach in mir ablaufen – ohne auf einen handwerklich „korrekten“ Plot zu achten oder gar an eine Veröffentlichung zu denken. Ich schrieb, weil und wie es mir gefiel. Sicherlich hat das auch mein Schreiben geschult. 

 

Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken, ich sollte doch etwas Bedeutungsvolleres gelesen haben – Werke wie Der Fänger im Roggen, das viele als DAS Kultbuch schlechthin bezeichnen, wenn es um prägende Leseerlebnisse in der Jugend geht. Doch ich wuchs in einem 80er-Jahre-Arbeiter-Haushalt heran. Meine Eltern waren nicht akademisch gebildet und meine Mutter las für ihr Leben gern. Und so blätterte auch ich mich quer durch das, was der Bertelsmann Buchclub so zu bieten hatte. Und finde jetzt heraus, dass er schon seit gut 10 Jahren nicht mehr existiert. Kein Hauptvorschlagsband mehr, keine Kataloge und erst recht keine Filialen. Meine Eltern verstarben in dem Jahr, bevor die letzte ihre Pforten schloss. Und irgendwie tröstet mich die Vorstellung, dass der Buchclub wahrscheinlich ihr ganzes Erwachsenenleben begleitet hat. 

 

Meine Online-Flatrates bei verschiedenen digitalen Bibliotheken, eine davon öffentlich (danke, Stadtbücherei Regensburg!) erscheinen hier wie eine logische Fortsetzung der Buchclub-Ära; Bücher und Schreiben sind und bleiben verlässliche Begleiter auf meiner eigenen Lebensreise. Ich möchte hier nach und nach noch mehr solcher Erinnerungen teilen – was bestimmte Autor*innen und Bücher mir bedeuten und welche Impulse sie mir gegeben haben. Schau wieder rein!

 

Bild: Foto M.G.

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Was wäre wenn ... ich in den 80ern schon Internet gehabt hätte?

Manchmal frage ich mich, ob mein Leben anders verlaufen wäre, hätte es in meiner Kindheit schon das Internet gegeben, wie wir es heute kennen. Doch ich wuchs in den 80ern in einem Arbeiterhaushalt auf dem Land auf; ohne U-Bahn oder Elterntaxi. Nur der Schulbus fuhr, morgens hin und mittags zurück. Im Dorf gab es zwei jüngere Mädchen, mit denen ich oft spielte, für die übrigen Sozialkontakte war ich auf Familie und Schule angewiesen. Ich arbeitete auf unserem Nebenerwerbs-Bauernhof, war viel draußen, nachmittags und am frühen Abend sah ich fern; das Raumschiff Enterprise nahm mich mit in ferne Welten. Dazu kam das Lesen - und das Schreiben. Beides musste ich sowieso lernen - also wurde es mein Lebens- und Ausdrucksmittel. Über das Soll hinaus gab es nichts: Ich lernte kein Instrument, war in keinem Sportverein. Es gab kein Reiten oder Reisen. Aber zum Glück die Realschule im Nachbarort. Dort betreute ich drei Jahre lang die Schülerbibliothek, nebenan lag die überschaubare Gemeindebücherei mit ihren Jugendbüchern und Hörspielkassetten. Immerhin, die Lesefreude meiner Mutter bescherte mir die Bücher unterm Weihnachtsbaum und zum Geburtstag, beim Buchclub bestellt; ganz selten einmal kam ich nach Deggendorf in einen Buchladen. Stattdessen gab es die private Schmiede-Werkstatt meines Vaters und die Anregungen der Natur: Wald, Wiesen und Felder statt Kino, Theater oder Museen. Letztere entdeckte ich erst als Erwachsene, und meine Berufsorientierung beschränkte sich auf's Naheliegende. Erst die Lehre, dann ein Ingenieurstudium - damals noch ungewöhnlich für ein Mädchen, aber folgerichtig für die Tochter eines "Metallers".

Schriftstellerin wollte ich damals schon werden - doch das war unerhört. Ich wusste weder, wie man dazu kam, noch wo die anderen zu finden waren. Heute gibt es ja für alles und jedes ein Forum im Internet, Autoren und Autorinnen haben Webseiten und öffentliche Werdegänge.  Bücher, Studiengänge, Verlage, Vorbilder - all das lässt sich im Netz viel leichter aufspüren - und dann live erleben. Oder eben online; die gegenwärtige Situation bringt oder zwingt uns dazu. Diejenigen, die jetzt seit Monaten fast nur im Home Office sind, die gezwungen sind den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu unterrichten oder unterrichtet zu werden; diejenigen, denen Videokonferenzen die Beratung oder Therapie ersetzen sollen - für die ist es hart. Und doch.

Für mich hat "dieses Online" seine Faszination noch nicht verloren. Natürlich spüre ich mein Gegenüber oder meine Schreibgruppe besser, wenn wir uns auch körperlich nahe sind; natürlich sollte das Studentenleben sich in Hörsälen und Kneipen abspielen. Doch wenn das nicht möglich ist (weil man zu weit weg wohnt, nebenher noch Geld verdienen muss oder weil gerade Pandemie ist), eröffnet das Internet tolle Möglichkeiten.

Ich empfinde es nach wie vor als Wunder, spüre noch immer die kindliche Freude wie damals am Dosentelefon. Mein Herz jubelt vor Freude, dass ich mich jederzeit, von überallher mit der Welt verbinden kann, mit Schreibpartnerinnen in Zürich oder Linz.

Ich stelle mir vor, wie ich damals, in meiner einsamen Kindheit, Online-Lesungen besucht, mich mit anderen Schreibenden ausgetauscht hätte, wie ich herausgefunden hätte, wohin ich gehen kann, um meine Möglichkeiten früher und breiter zu entfalten.

Vielleicht aber wäre ich auch eines der Kinder gewesen, die keinen eigenen Laptop besitzen und schlechten Zugang zum Internet haben.

Vielleicht wäre ich mit Internet gar keine Schriftstellerin geworden, denn das Abgeschnittensein von fast allem lehrte mich zu träumen und zu phantasieren.

Und viele Fähigkeiten, die ich in meiner analogen Kindheit und Jugend erworben habe, kommen heute auch online zum Tragen. Dass ich weiß, wie man sich durchfragt; wie man eine Nachricht zu bewerten hat, und dass ich einschätzen kann, was glaubwürdig ist und was nicht ...

Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen erstens Zugang zu Online-Angeboten haben und zweitens diese auch kompetent zu nutzen lernen. Das ist für mich ein zentraler Baustein für gesellschaftliche Teilhabe und Mobilität.

familie

mein vater der imker

 meine mutter die gärtnerin

 mein bruder der vierjährige

 traktorlenker allein am waldrand

 ich die traumwandlerin

 meine mutter die talentierte

 zeichnerin köchin duldsame

 mein vater der kraftvolle schmied

 mein bruder der versteckte

 die streberin ich

 die bücher

 das eisen

 das fahrrad

 der marmeladentopf

 das alte haus

 unser fliegenfänger

 seine äcker die wohlbestellten

 ihr garten das paradies

 mein bruder der ältere

 ich die nicht weiß

 wie ihr geschieht

 mein vater der gerechte

 und wir

 die ewig

 vertriebenen

was ich habe

ich habe ackererde
an den füßen
darunter die plätze
der steinernen stadt

ich habe das dach überm kopf
den kirschbraunen schreibtisch
und einen weißen aus schichtstoff

ich habe vier telefone
und so viele räume
dazu mein fahrrad, mein radio
handwerker und freundinnen

ich hab eine reihenfolge
für die wörter
und staune täglich
über ihre verschiedenheit

ich habe lange, altmodische flure
und die rote tür zur werkstatt
bei st. leonhard


hier schlägt mein herz
in der stille

Alltagshindernisse

das schaben der hockerbeine
auf den fliesen
staubflusen an teppichrändern
wenn das telefon klingelt
und meine gedanken zerreißt
zeitdiebe in treppenhäusern
gute ratschläge
und meine reflexe darauf
energisches klopfen
bevor die tür aufplatzt
und jemand stör ich? fragt
ihr laut und mein leise
und mein ewiges suchen nach stille

muttertag

vergissmeinnicht

aus deinem garten

und von den wiesen

löwenzahn

meine klebrigen finger banden

die stängel mit gräsern

jetzt ist dein platz unter buchen

meine hände schneiden

das efeu und immergrün

dazwischen vergissmeinnicht

ich zünde die kerze an

und schicke dir einen garten

voll sommerblumen

Bewegung ist mein Leben

von Marianne Bischof. Aus der biografischen Schreibwerkstatt

Der Drill beginnt am Morgen.
Den Startschuss macht der Wecker.
Schnell links aus dem Bett gerollt.
Robben zum Kaffeekocher.
Intensives Zähneschrubben unter dem harten Strahl der Dusche.
Heftiges morgendliches Gefecht mit dem Gatten: Touché.
Dritter Stock runter.
Rauf aufs Fahrrad, schon wieder zu spät.
Rote Ampel mit Blick auf Blaujacken umfahren.
Treppen hochspringen.
Kotau vor dem Chef.
Harter Handkantenschlag auf den defekten Computer.
Einarmiges Reißen des Telefonhörers.
Endlich Pause.
Büroschlaf

 

Aus dem Leben einer Teilzeitschriftstellerin

Zurück im Alltag

So langsam gewöhne ich mich wieder an mein normales Leben. Doch was heißt normal? Nach einem Monat voller künstlerischer Freiheiten, neuer Eindrücke und intensiver Schreibzeit als Writer in Residence in Pécs tauchte ich letzte Woche wieder in meinen Alltag ein: Meine Arbeit als Bauingenieurin, das Schreiben von Blogartikeln, Geschichten und Gedichten, Planen von Schreibkursen, FreundInnen treffen und Kulturveranstaltungen besuchen - das ist mein normales Leben. Das Pécs-Gefühl, wie ich es nenne, lässt sich nicht konservieren. Doch ich habe mir vorgenommen, auch zu Hause noch mehr Kulturmensch zu sein und auch in der scheinbar vertrauten Umgebung das Neue, Schöne und vielleicht auch Fremde gezielt zu suchen. So war ich endlich einmal im Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg, wo ich fast nahtlos an meine Erlebnisse in Südosteuropa anknüpfen konnte: Mit Literatur als europäische Muttersprache: Begegnung mit AutorInnen aus neun Ländern - Lesungen und Gespräche u.a. mit Harald Grill, Tsvetanka Elenkova (Bulgarien), Vladimir Đurišić (Montenegro): Das geniale Projekt OMNIBUS führt in diesem Sommer insgesamt 100 europäische Autorinnen und Autorinnen von Finnland bis Zypern; auf der gesamten Strecke finden Lesungen, Diskussionen und Workshops statt.

Und auch das Wandern soll in diesem Sommer nicht zu kurz kommen - es beflügelt die Gedanken, die Seele und den Körper sowieso. Deshalb erstürmte ich gleich am Sonntag nach meiner Rückkehr den Kaitersberg und den Burgstall, auf dem ein Fernsehturm steht: Eine wehmütige Erinnerung an meine Wanderung im Mecsek-Gebirge ...

Und dann gilt es natürlich noch die mitgebrachten Texte und Ideen zu verwerten. Das wird wohl noch eine Weile dauern. Irgendein Eisen ist immer im Feuer und ich freue mich wie verrückt auf die Veröffentlichung meines ersten Romans im August, die mein Verlag auf den Weg gebracht hat, während ich weg war. Inzwischen steht meine Autorinnen-Seite auf Facebook, es gibt schon erste Vorbestellungen für das Buch und bald werde ich euch hier informieren, wo die Buchpräsentation von Brot und Bitterschokolade stattfindet - voraussichtlich nach den Sommerferien. Davor lese ich Lyrik bei der Sechsten Nacht der Poesie am 24. Juni im Herzogspark - gemeinsam mit lieben Autoren- und Autorinnenkollegen. Brandneue Gedichte aus Pécs werde ich dort sicher auch vortragen. Am gleichen Wochenende ist Tag der offenen Ateliers im Oberpfälzer Künstlerhaus (das mir ja auch den Aufenthalt in Pécs ermöglicht hat). Ich bin schon gespannt auf die dortigen internationalen StipendiatInnen ... So ist schon wieder einiges los in meinem Leben als Teilzeit-Schriftstellerin - und (natürlich nicht) nebenbei arbeite ich ja auch noch im Bereich der Regensburger Unterwelt ...

 

schriftstellerin regensburg
Auf den Spuren berühmter Dichter: Im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg

Pécs: Begegnung mit mir selbst

Zwischen den letzten beiden Einträgen über Pécs ist eine Woche vergangen. Das bedeutet aber nicht, dass ich nichts geschrieben habe. Im Gegenteil: Ich überarbeite ein Romanmanuskript, texte Blogartikel - und ich schreibe sehr viel in mein Notiz- und Tagebuch. Am liebsten in einem Café, mit Geschirrgeklapper, dem Zischen der Kaffeemaschine und den Stimmen der anderen Gäste um mich herum. Dann stellt sich dieses Gefühl konzentrierter Zeitlosigkeit ein, das die Ideen fließen lässt.

 

Durch das Schreiben leben

Auch darum bin ich hier: um Raum für mein eigenes Schreiben zu haben, in einer fremden und anregenden Umgebung. Denn wie viele Autoren und Autorinnen habe ich einen Erstberuf, von dem ich hauptsächlich lebe. Diese vier Wochen bieten mir das Privileg, mich einmal nur dem Schreiben hingeben zu können. Weil es das Pécs Writers Program gibt, das Oberpfälzer Künstlerhaus und nicht zuletzt meine Kollegin, die mir in vier Wochen unbezahltem Urlaub den Rücken freihält.

Vielleicht lebe ich nicht vom Schreiben - auf alle Fälle aber durch das Schreiben. Für meinen Aufenthalt hier hatte ich mir vorgenommen: Jeden Tag ein Gedicht, um das Erlebte, das Gesehene festzuhalten und zu gestalten. Das klappte aber nur am Anfang. Stattdessen füllte ich bald Seite um Seite meines Tagebuchs.

 

Luft zum Atmen oder: Wer bin ich?

Wer bin ich, wenn ich so gut wie aller Pflichten enthoben bin? Was darf sich zeigen? Wie aufregend oder gar beängstigend ist die Begegnung mit mir selbst?

Es ist keine Überraschung, dass ich viel Zeit für mich benötige. Nach zwei Todesfällen in der engeren Familie Ende 2014 war der Bogen immer straff gespannt, ich funktionierte gut - zu gut vielleicht. Wie immer gab das Schreiben mir Trost und Sicherheit, doch das Leben kam mir immer schneller, immer voller vor.

Jetzt ist plötzlich Luft zum Atmen. Und ich genieße es, bis hin zur Einsiedelei. Die Stadt macht es mir leicht, alleine unterwegs zu sein; die Museen, die Moscheen, Synagogen, Kirchen, das Zsolnay-Kulturviertel auf dem Gelände der Keramikfabrik und die Konferenz, an der ich vergangene Woche teilnehmen durfte. Sie bescherte mir Einblicke darein, was es bedeutet Kulturhauptstadt Europas zu sein (wie Pécs 2010), zu werden oder sich überhaupt nur um den Titel zu bewerben - gerade auch für Städte in Osteuropa. Denn die Sicht des Westens ist - aus meiner eigenen, sehr subjektiven Perspektive - doch oft ziemlich eingeschränkt gegenüber der Vielfältigkeit und Geschichte der neueren Mitgliedsstaaten der EU.

 

Eine Frage der Perspektive

A propos eingeschränkte Sicht. Wenn ich schreibe, kommen "meine" Themen nicht explizit daher, sondern zeigen sich im Spiegel des Erlebten.

Wenn ich durch eine Stadt spaziere, deren offizielle Landessprache ich nicht beherrsche, und mir die Menschen auf unterschiedlichste Weise entgegenkommen - sich um mich und meine Bedürfnisse bemühen.

Wenn ich auf jüdische Spuren stoße, auf osmanische - und auch auf deutsche.

Wenn ich auf Menschen treffe, die in Ungarn oder Rumänien (wie meine Konferenz-Sitznachbarin) beheimatet sind - und die das über Jahrhunderte bewahrte kulturelle Erbe ihrer deutschen Vorfahren als Teil ihrer Identität begreifen.

Wenn ich auf der Seite des ungarndeutschen Lenau-Vereins lese: "Der Lenau Verein nimmt zwischen Ungarn (unsere Heimat) und Deutschland (unsere kulturelle Mutternation) eine Brückenrolle wahr."

Dann denke ich über Heimat nach und über Identität. Und ich frage ich mich: Wie können wir in Deutschland heutzutage annehmen (oder verlangen), dass Zuwanderer sich möglichst schnell und unauffällig "integrieren"? Speist Identität sich nicht immer aus mehreren Quellen - und in manchen Fällen eben aus sehr unterschiedlichen?

 

Was heißt das eigentlich: Heimat, Integration, Identität?

Meine Heimat ist Niederbayern. Ein Landstrich, in dem es weniger jodelt als im bekannteren Alpen-Bayern. Wo die Menschen verhaltener und trotzdem lustig sind. Ein Donauland. Dort bin ich geboren und aufgewachsen und es hängen Gefühle daran. Vollständig integriert fühlte ich mich dort aber nicht: Meine Eltern, die Flüchtlingskinder, hatten eine andere, durch den Nationalsozialismus verwirkte Heimat. Der Dialekt und der nicht-katholische Glaube unterschieden sie von der alt-eingesessenen Bevölkerung. Ich selber lernte Niederbayerisch in der Schule, durfte im Schulgottesdienst nicht zur Kommunion ("die Bösen und die Evangelischen sowieso nicht"), und das mit Schlesien war ein irgendwie exotisches Echo aus fernen Zeiten. Ein familiäres Hintergrundtrauma, mit dem ich nicht unmittelbar etwas zu tun hatte.

Erst heute - ja, vielleicht erst seitdem ich in Pécser Cafés diese vielen Tagebuchseiten zu Papier gebracht habe - komme ich diesem diffusen Gefühl auf die Spur, das mich so lange schon begleitet; ein Gefühl, das mich manchmal rast- und ratlos macht und das sich in vielerlei Gestalten zeigt. Da ist der Bruchteil eines Zögerns, mit dem ich manch spontane Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lasse. Da ist die Leere, die sich manchmal auftut, wenn ich auf mich gestellt bin und Entscheidungen nur von meinen eigenen Bedürfnissen abhängen. Oder die Freude der Begegnung, die sich manchmal wie ein Schock anfühlt und tieferen Kontakt verhindert. Dabei mangelt es mir nicht an Selbstbewusstsein. Das Gefühl geht tiefer: Es ist das Gefühl von Nicht-Zugehörigkeit, vielleicht sogar von Nicht-Berechtigtsein. Die Angst, Raum einzunehmen, vor allem auf unbekanntem Terrain.

Es tut gut, es zu benennen. Denn wie so viele Gespenster scheut dieses Gefühl das Tageslicht; jetzt, wo ich darüber schreibe, beginnt es sich schon aufzulösen. Was natürlich auch mit dem Prozess zu tun hat, der diesem Text voranging.

 

Es hilft, den Fuß auf unbekanntes Land zu setzen

Ich bin berechtigt, hier zu sein. Jemand hat mich mit diesem Stipendium ausgezeichnet und in meinen Texten gelesen, dass ich es verdiene. Und fand nichts "Unberechtigtes" daran, dass ich während des Schreibstipendiums auch biografisches Material poetisch aufarbeiten wollte.

Nun lebe ich den Traum, Vollzeit-Schriftstellerin zu sein. Ich darf stundenlang in einem Café sitzen und über mich selbst schreiben. Das mag nicht gesellschaftsrelevant sein, doch für mich persönlich sehr bedeutsam. Und es lehrt mich wieder etwas über (biografisches) Schreiben. Ich bin berechtigt, hier zu sein - mitten in Europa. Ich kann überall hinreisen, in alte und neue, in eigene und fremde Heimaten und selbstverständlich auch in meine Phantasiewelten.

Dabei bin ich nicht auf der Durchreise. Ich komme an, und ich werde wieder nach Hause fahren. Dazwischen BIN ich. Hier. Und mache Erfahrungen, die in die Substanz meiner literarischen Arbeit einfließen werden. Mein Schreiben ist eine zuverlässige Heimat, eine geografisch unabhängige Wurzel auf dem Kompost meiner Herkunft.

 

Zu Hause in Europa

Seit einer Woche schwebe ich hier in meiner eigenen Welt, einer Welt des deutschsprachigen Schreibens einerseits und der Begegnung mit Südungarn andererseits. Für aktuelle Informationen über das Land bin ich mangels Sprachkenntnissen auf deutsche Medien angewiesen, und natürlich interessiert mich auch, was zu Hause vor sich geht. Zu Hause? Damit meine ich natürlich Deutschland. Bayern. Regensburg. Aber irgendwie bin ich auch hier in Pécs zu Hause - hier in Europa. Und in meinem Heimatland Europa ist zur Zeit so einiges los. Eine ehemalige deutsche Ministerin namens Margot Honecker ist in Chile gestorben, und in London wurde ein muslimischer Bürgermeister gewählt, ein Einwandererkind aus Pakistan.

Auch meine Eltern waren gewissermaßen Zuwanderer. Dabei weiß ich nie so genau, wie ich ihr Geburtsland nennen soll. Die Behörden scheinen es auch nicht zu wissen: In der Sterbeurkunde meines Vaters ist als Geburtsort Polen angegeben, bei meiner Mutter Schlesien. Und je nach Definition habe ich mal Migrationshintergrund, mal keinen.

Was hat das nun mit Ungarn zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Doch Ungarn war das Land, in dem der Eiserne Vorhang löchrig wurde - was letztlich dazu führte, dass meine Verwandten aus Sachsen näher gerückt sind. Letztes Jahr dann die Wanderung von Regensburg nach Pilsen: Grenzüberschreitend, in zehn Etappen, Seite an Seite mit deutschen und tschechischen Autoren und Autorinnen. Und die Geburtsstadt meiner Mutter ist Europäische Kulturhauptstadt 2016.

Dass ich heute so einfach in den einstigen "Ostblock" reisen kann, ist eine beglückende Erfahrung. Andersherum gilt das sicher auch, aber ich ahne, dass die unterschiedlichen Preisniveaus eine empfindliche Schranke sind, während ich hier sehr gut mit meinem Bugdet auskomme.

Aber auch mir ist der Luxus nicht in die Wiege gelegt: Ich wuchs auf einem Bauernhof auf, ohne Zentralheizung, in zugig-feuchten Gemäuern mit schiefem Dach und abbröckelndem Putz. So manche Straße in Pécs - vor allem außerhalb der historischen Stadtmauern - erinnert mich daran, dass es das auch heute noch gibt. Pécs ist bei Weitem nicht so durchsaniert und saturiert, wie mir Regensburgs Altstadt inzwischen erscheint.

Hier in Pécs erzählen die Gehsteige in mehreren Schichten von ihrem Werdegang, Randsteine sitzen schief oder fallen aus wie alte Zähne. Und Straßengrün kann auch heißen: Löwenzahn und Klee, der aus rissigen Teerdecken sprießt.

Auch auf diesen Straßen fahren Autos und die Passanten sehen aus wie du und ich - und schon an der nächsten Straßenecke kann ein Café auf dich warten, in dem das Brühen von Kaffee in höchster Vollendung zelebriert wird. Verschiedene Zubereitungstechniken und Röstungen inklusive. Ich wage zu behaupten: Das fehlt uns in Regensburg in dieser Feinheit.

Je länger ich schreibe, desto mehr Gegensätze drängen sich auf; zwischen meiner eigenen Gewohnheit, die Welt wahrzunehmen und dieser fremden, schönen Stadt, die auch in sich so viel Verschiedenes vereint. Das ist ja auch der Zweck des Reisens: Dass mein Horizont sich weitet und ich ein Stück mehr von diesem Europa kennenlerne, in dem ich zu Hause bin.

 

Abschied vom Trekkingrucksack

Vor bald einem Jahr ging mein gut 20 Jahre alter Trekkingrucksack mit mir auf die letzte große Fahrt: drei Wochen Britrail Ticket in Südengland und Wales. Seit er zerbröselt ist, habe ich mich davor gedrückt, ihn zu ersetzen. Doch am 1. Mai breche ich für vier Wochen nach Südungarn auf: zum Internationalen Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Pécs Writers Program. Es musste also ein neuer Großraum-Rucksack her. Oder ein Rollenkoffer. Oder eine Reisetasche. Am liebsten alles zusammen - diese Modelle gibt es zwar, doch sie sind rar und teuer, außerdem ist die Multifunktionalität ein fauler Kompromiss - für eine mehrtägige Hüttentour taugen sie trotz Tragesystem nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich mir eingestand: Ich brauche keinen 90-Liter-Rucksack mehr. Nie wieder. Für die paar Meter am Bahnhof oder vom Zug zum Taxi ist ein Trolley praktischer, und man fegt damit auch keine Mitreisenden vom Perron. Also strich ich die Rucksackfunktion von der Anforderungsliste. Doch die Rollenkoffer wirkten spießig, die meisten Reisetaschen zu stylish, zu sportlich oder zu schrill. Schließlich fand ich doch noch eine schöne Tasche auf Rädern: Geradlinig, schwarz und blau. So genanntes "Weichgepäck". Bin ich ein Weichei geworden? Ach was. Der Abschied vom Trekkingrucksack birgt nur so viele andere Abschiede: Abschied von dem wilden Leben, in dem ich nach einer Nacht auf der Isomatte noch ohne die Hilfe einer Physiotherapeutin aufstehen konnte. Und zwar gut erholt. Abschied von den Zeiten, als ich noch am Stück 1.000 Höhenmeter zu Fuß überwinden konnte und anschließend aus Versehen einen Umweg von zwei Stunden ging. Abschied vom Leben mit leichtem, schwerem Gepäck. Aber es muss ja kein vollständiger Abschied sein: Ich habe ja noch den 40-Liter-Rucksack für die kleineren Touren; mehr kann mein Rücken ohnehin nicht tragen. Und der Taschentrolley hat zwei sehr stabile, große Henkel, die man zur Not als Rucksackriemen nutzen kann ...

Ich erinnere mich

von Jo Storm. Minuten-Texte aus der Schreibwerkstatt

Fenster
Blick in den Garten. Vom Bahnhof aus die Rückseite. Züge fahren. Blumen blühen. Es duftet schon nach Mittagessen. Ich halte eine Raupe in der Hand.

Baum
Papa hat einen Kirschbaum geschenkt bekommen. Doch wohin in dem kleinen Reihenhausgarten? Neben der Wäschespinne? Geht doch! Inzwischen blüht er jedes Jahr. Der Baum – nicht die Spinne.

Schuhe
Sie tragen mich durch dick und dünn. Sie sind Schnittstelle zum Weg. Oft misshandelt und wenig gepflegt. Aber geh mal ohne Schuhe den steinigen Weg.

Regen
Ein Landregen an der Adria. Dicke Tropfen platschen auf die Straße. Wir schauen raus. Eine frische Brise umfängt uns.

Abend
Die Sonne senkt sich. Wir sitzen am Balkon und trinken Aperol Spritz. Die Woche ist geschafft. Da laufen Flüchtlinge vorbei. So ist die Welt.

Küche
Omas Küche war phänomenal. Nur klein, aber aus wenigen Zutaten buk sie mit Zauberhand Käsekuchen für alle.

 

Marmeladenmenschen

Als ich ein Kind war, stand in unserem Hof ein riesengroßer Apfelbaum. Seine Früchte waren sauer und holzig. Man konnte sie nicht roh essen, doch meine Mutter verwendete sie als natürliches Geliermittel. Sie war eine hingebungsvolle Marmeladenköchin: aus Brombeeren, Stachelbeeren, roten und schwarzen Johannisbeeren, Erdbeeren und gelben Pflaumen zauberte sie wunderbare Gelees und Marmeladen - selbst dann noch, als es ihr schon nicht mehr gut ging. Als Kind half ich beim Einkochen, später bekam ich die Marmelade bei meinen Besuchen mit auf den Heimweg. Ich wusste: eines Tages würde die letzte Marmelade aufgebraucht sein. Und so kam es auch.

 

Trotzdem ist meine Speisekammer gut gefüllt: Da steht plötzlich zur Marmeladensaison ein bunt gefülltes Glas auf meinem Schreibtisch, oder eine Freundin, die einen Schrebergarten bewirtschaftet, zieht beim Kaffeetrinken lächelnd ein Einmachglas aus ihrer Handtasche. Und selbstverständlich kehre ich von der Reise zu Mutters Cousine mit einer Reisetasche voller Kostbarkeiten zurück.

 

Oft ohne es zu wissen, berühren Menschen immer wieder meine Marmeladenseite - die Stelle, an der meine Mutter fehlt. Nur ganz leise meldet sich dann Traurigkeit. Der Rest ist reine Freude. Und Dankbarkeit, dass es in meinem Leben eine Reihe Marmeladenmenschen gibt.

 

 

Die Poesie des gelebten Lebens

biografisches schreiben regensburg
Apostolatshaus der Palottiner in Hofstetten bei Falkenstein - Blick aus dem Fenster

 

Was ist kreatives Schreiben? Eine Antwort darauf habe ich hier schon einmal versucht. Normalerweise unterstelle ich beim kreativen Schreiben in der Gruppe, dass das Geschriebene erfunden ist - auch wenn es einen Ich-Erzähler oder Erzählerin gibt. Niemand soll sich rechtfertigen müssen, wie viel Biografisches im eigenen Text steckt. Wir sprechen über den Text und nicht über den Autor, so formulierte es meine Wiener Schreiblehrerin Christa Brauner.

 

Beim Biografischen Schreiben hingegen wecke ich gezielt Erinnerungen an selbst Erlebtes, hier ist schon klar: Wir tauschen uns tatsächlich über unser Leben aus. Manchmal klappt diese Abgrenzung, manchmal auch nicht - und manchmal wäre sie sogar störend. Hier ist Fingerspitzengefühl vonnöten. Vor allem soll niemand das Gefühl haben, beim Schreiben und Vorlesen mehr zu offenbaren, als ihr oder ihm lieb ist.

 

Bei der Kreativen Schreibwerkstatt, die ich am Wochenende für den Katholischen Deutschen Frauenbund anleiten durfte, hielten sich die Frauen nicht lange mit solchen Feinheiten auf. Kreatives Schreiben hieß für sie: Erlebtes aufs Papier bringen, eigene Gedanken, Beobachtungen, Entwicklungen. Familiäres, Gesellschaftliches, Trauriges und Hoffnungsfrohes, Erinnerungen und Bestandsaufnahmen. Sie vertrauten mir und den teils bewusst irritierenden Schreibanregungen, und ich durfte ihnen vertrauen: Alles, was sich zeigte, durfte sein, in einer Atmosphäre der Wertschätzung und des respektvollen Austausches. Schreiben wirkt.

 

Selten habe ich das so gespürt wie an diesem Wochenende im Apostolatshaus der Palottiner. Poesie und literarische Qualität stellten sich wie nebenbei ein; die Texte berührten auf so vielen anderen Ebenen.

 

Die meisten Frauen stehen an der Schwelle "zu einem neuen Leben" (wie es eine von ihnen ausdrückte): Nach dem Berufs- und Familienleben und erfüllten Jahren im Ehrenamt nehmen sie sich nun die Freiheit, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen. Sich für sich selber Zeit zu nehmen, zum Innehalten und bewussten Schauen: Nach vorne und zurück. Ich spürte die Kraft dieser Frauen, die meisten davon Mütter und Großmütter.

 

Meine eigene Mutter starb heute vor einem Jahr.

 

Das Trauerjahr ist um, und ich habe noch so viel nachzuspüren und einzuordnen. Am traurigsten machen mich die Dinge, die sie nicht leben konnte. Sie forderte so wenig für sich und ging zu früh. Auch in der Frauenschreibwerkstatt war die Rede vom Herbst des Lebens, aber auch von neuem Aufbruch. Am Ende meines Trauerjahres helfen mir diese Geschichten, den Blick auf das Gelebte zu lenken. Auf das was war und nicht auf das, was vielleicht hätte sein können. Die Kraft und Poesie des gelebten Lebens ist stärker.

 

Leben

geradeaus Schwimmen

lernen

auch wenn gerade

keine Bahn frei ist


Über das Schuheputzen

Meine Mutter hat mir das Schuheputzen beigebracht - und ich hasste es. Heute zähle ich es zu meinen wertvolleren lebenspraktischen Fähigkeiten. Schuhe säubern und trocknen lassen; eincremen, wieder trocknen lassen und schließlich glattpolieren. Zumindest dieser letzte Arbeitsgang ist mit einer gewissen Befriedigung verbunden: Es ist wieder mal geschafft, die Schuhe glänzen. Oft genug staune ich dann über die Schönheit meines Schuhwerks. Und wie immer schwindet der Drang, mir Neues zu kaufen: Das Alte war doch klug gewählt, ist haltbar und formschön - so lange es gut gepflegt ist.

Doch was, wenn findige Designer einem einen Strich durch die Rechnung machen? Der allseits in Mode gekommene Vintage-Chick zum Beispiel: Dinge, die wirken, als wären sie in Ehren gealtert. Jeans im Used-Look, Lederjacken die aussehen, als hätten sie schon ein Vierteljahrhundert auf dem brüchigen Buckel, den abgewetzten Ärmeln. Dinge, die einen Charakter vorspiegeln, den sie noch gar nicht erworben haben können.

Wie diese Winterstiefel von Mustang, aus dem winzigen Schuhladen am Fuße der Burgruine in Kallmünz: Faltiges Leder mit einer staubig-verwitterten Oberfläche, das innere Bilder aufsteigen lässt von Cowboys, die tagelang durch menschenleeres Gebiet voranreiten, mit ihren tapferen Pferden durch Flussbetten preschen, dass das Wasser nur so aufspritzt. Mit Stiefeln an den Füßen, die sowohl dem Wasser als auch dem rauen, sandigen Wind trotzen. Stiefel, die abends vor dem Lagerfeuer ausgezogen und getrocknet werden.

Was passiert nun, wenn man diesen Stiefeln mit Wasser, Seife und Schuhcreme zu Leibe rückt? Richtig: Am Ende glänzen sie völlig unromantisch, nur die Falten sind noch da. Bleibt zu hoffen, dass sie durch Gebrauch, Vernachlässigung und Tausalz wieder jene wild-romantische, cowboymäßige Patina annehmen, die ihnen zusteht.


Ferne Häfen

Von den Winzerer Höhen her kommend, spaziere ich über den Fußgängersteg bei Pfaffenstein. Just in diesem Moment schiebt ein Frachtschiff seinen Bug unter der Brücke hindurch, Trapezbleche gleiten einladend nah vorbei. Wie leicht es wäre, jetzt zu springen! Ob sie mich wohl mitfahren ließen?

"If you were James Bond...", sagt plötzlich eine Stimme neben mir.

"... I would have jumped!", vollende ich den Satz vergnügt. "I just thought about it!"

Ich drehe mich nach links und erblicke den Mann, der meine Gedanken erraten hat: Er ist nicht sehr groß und trägt einen stattlichen Rucksack. Aus seinem nicht mehr ganz jungen, dreitagebärtigen Gesicht blicken dunkle Augen, in denen sich die ganze Welt zu spiegeln scheint. Und richtig: Wien, Regensburg, die Bahamas, New York, Chicago und Marbella sind nur einige der Stationen, an denen sich der Sportarzt jeweils für einige Zeit niedergelassen hatte. Das erzählt er mir jetzt in gutem Deutsch mit osteuropäischem Akzent. Wir gehen ein Stück zusammen. Meine eigenen Reiseerfahrungen nehmen sich eher bescheiden aus: Urlaube in Europa, ein Auslandssemester in Dänemark, Sprachferien in Spanien und freundschaftliche Verbindungen nach Österreich und in die Schweiz. Umso lieber mag ich die Reisegeschichten anderer - und den ungewöhnlichen Blick auf uns, die Deutschen. Kaum ein anderes Volk, das so viel wandert, sagt mein Weltenbummler. Das ist doch was! Auch ich bin eine Wandererin. Mit den Füßen und im Herzen. Als Jugendliche wollte ich einmal Binnenschifferin werden, und noch heute packt mich beim Anblick der Containerschiffe manchmal das Fernweh - nach nördlichen Häfen und den Orten, zu denen man von dort aus aufbrechen kann. Inzwischen sind wir auf der Südseite des Wehres angekommen.

"Das nächste Mal springen Sie!", sagt mein Bekannter und zwinkert mir zu. Dann wendet er sich in Richtung Westbad, und ich gehe in der entgegengesetzten Richtung davon.

 

 

Die Abwesenheit

Es ist die Abwesenheit
Von Schmerz und Fragen
Es ist die Abwesenheit
Von Antwort und Leid
Es ist die Abwesenheit
Von Schwere und Illusionen
Es ist die Abwesenheit
Von Geduld und Hoffnung
Es ist die Abwesenheit
Aller Wünsche und Pflichten
Es ist die Abwesenheit
Von Zittern und Not
Es ist nicht
Was es war

Doch es ist gut

 

Wintertour nach Winterthur

Genau vier Jahre ist es her, dass ich für gut einen Monat nach Winterthur reiste, um dort ein Leben als Schriftstellerin auszuprobieren - als Untermieterin in der damaligen WG meiner Freundin und Schreibkollegin Edith Truninger. Es war eine Zeit nur für mich und mein Schreiben - wie ein Künstlerstipendium, das ich mir selbst gewährte. Die kleine Stadt zwischen den sieben Hügeln war mir sofort sympathisch mit ihrer lebhaften bunten Innenstadt und dem verträumten Ortsteil Veltheim, einem ehemals selbständigen Winzerdorf. Mehr als einmal wanderte ich durch die Weinberge und manchmal sah ich in der Ferne auch "echte" Schweizer Berge. Unvergessen das Frühstück mit Edith, bei dem wir unser erstes Schreibseminar entwickelten und ich ein Appenzeller Weizen genoss, was Edith sofort als bayerisches Element an mir identifizierte. Und das Schweizerische? Da war vor allem diese Sprache, die sich mir - selten verständlich - ins Ohr schmiegte, sich meist aber lustig entzog; außerdem meine Spaziergänge, die Einkäufe in der Migros und eine Tee-Verkostung (nachzulesen hier auf meinem alten Blog). Und natürlich das Schreiben: An Ediths Esstisch vollendete ich meinen Roman. Zurück blieben ein ungemein befriedigendes Gefühl und das bis heute unvermarktete Manuskript. Doch ich erinnere mich noch genau daran, wie gut es mir gelang, meinen Tag zu strukturieren: Mehrere Stunden schreiben, rausgehen und Kopf, Herz und Notizbuch mit neuen Eindrücken füllen, Texte überarbeiten und mit meiner Schriftstellerkollegin neue Projekte entwickeln - aus all dem ließ sich ein abwechslungsreicher Arbeitsurlaub gestalten. Vollzeitschriftstellerin bin ich seither nicht geworden - doch ich weiß, dass ich es könnte.

 

am fluss entlang

du folgst dem fluss
auf nassen füßen
während das wasser
sich land holt

du suchst eine brücke
und findest
ein boot ohne ruder
legst dich hinein
und ziehst den himmel
über dich

das boot steigt bei regen
und fällt mit der dürre
zur mündung hin

 

so gleitest du
in die gezeiten
den wellen ausgeliefert

und nur dein boot weiß

wo du bist


bald lernst du
sturm und flaute auszuhalten
deine nächte
zählst du nicht

dann strandest du
auf einer insel
und merkst
dass du sie immer schon
bewohnst

 

mann geschenk für frau

Violette. Ein eindringliches Plädoyer für das Schreiben

 

Ein unglaublich schöner, einfühlsamer Film ist dem Franzosen Martin Provost gelungen. In Violette porträtiert er (wie schon zuvor in der Filmbiografie Séraphine) eine außergewöhnliche Frau, die den Verhältnissen ihrer Zeit und ihrer Herkunft trotzt: Violette Leduc (1907 - 1972).

 

Unehelich geboren im Jahr 1907 als Tochter eines Dienstmädchens, schleppt sich Violette Leduc mit diversen Makeln durch das Leben wie ein krumm gewachsenes Bäumchen. Sie wächst in Armut auf, sie schreibt, sie betreibt Schwarzhandel während des Weltkrieges. Und sie leidet. An sich, an der Gesellschaft, an ihrer vermeintlichen Hässlichkeit, an unerfüllten Sehnsüchten. Ihr bleibe gar nichts anderes übrig, als zu schreiben, sagt ihr ein früher Weggefährte. Und Violette schreibt. Immer schöpft sie dabei aus dem Biografischen. Aus dem Gefühl, ein ungewolltes Kind zu sein, aus den ersten Erfahrungen lesbischer Liebe im Internat, aus der Zeit ihrer kurzen Ehe und einer Abtreibung. Dabei spiegelt ihre ganz persönliche Situation die gesellschaftliche Rolle der Frauen, die erst Jahre später einen neuen Auf- und Ausbruch aus den unterdrückenden Verhältnissen wagen sollten.

 

Wenn Violette liebt, geht es oft daneben; ihr bisheriges Leben scheint ihr schon ein zu großes Defizit an Liebe mitgegeben zu haben. Begehrt sie ausnahmsweise einen Mann, dann liebt auch dieser Männer - und zwar ausschließlich. Ihre größte unerfüllte Liebe aber schenkt sie Simone de Beauvoir, die ihre Unterstützerin und Fördererin wird - und zugleich ihre Rivalin, als Violettes erste Bücher nicht erfolgreich sind.

 

"Jammern Sie nicht, das kann ich nicht leiden", sagt die Beauvoir in einer unvergesslichen Szene zu ihr. Ein Satz, den sich alle erfolglos Schreibenden immer wieder vorsagen sollten. Und: "Schreiben Sie!", ist Beauvoirs Antwort auf so ziemlich alle Fragen, Missstände und Leiden Violettes. Und Violette schreibt, immer wieder. Bis sie am Ende doch erfolgreich ist - eine Mitstreiterin und Wegbereiterin des Neuen Feminismus.

 

Am Ende erfährt Violette endlich die Anerkennung, die sie so lang ersehnt hat. Sie stirbt, wenn vielleicht auch nicht versöhnt mit sich, immerhin als bekannte Persönlichkeit.

 

Für mich ist dieser Film vor allem ein bedingungsloses Plädoyer für das Schreiben - ein Schreiben, das nicht Heilung, aber Rettung ist. Es bewahrt Violettes Lebensfaden vor dem Zerreißen, wo er schon manches Mal gefährlich dünn ist.

 

Ein Film, der zudem wunderbare Bilder und ungewöhnliche Perspektiven hat: Mehr als einmal bekommt der Betrachter die Tür vor der Nase zugeschlagen. Auch wenn die nächste Einstellung dann bereits wieder das Geschehen hinter der Tür zeigt, erzwingt dieser Kunstgriff eine kleine Nachdenkpause. Andere Szenen wirken, als sei man mit im Zimmer, ein lautloser, unentdeckter Eindringling in die Intimsphäre der Figuren. Mit alldem verschmilzt harmonisch die Filmmusik von Arvo Pärt.

 

Bei den Felsen

regensburger autor

Falkenstein, 1. März 2014

 

Die Äcker der Kindheit

Auf den Äckern der Kindheit blüht der Mohn
Und das Unkraut dazwischen
Auf den Äckern der Kindheit liegt Samen
Der noch nicht aufgegangen ist
Auf den Äckern der Kindheit wächst Verschiedenes
Manches wächst mickrig. Manches blüht.
Manches verdorrt.
Auf den Äckern der Kindheit darf Unkraut sein
Unkraut ist Ansichtssache
Die Äcker der Kindheit liegen brach
Sie erholen sich
Vom Pflügen und Wachsen
Die Äcker der Kindheit wussten nicht
Dass die Felder der Freiheit
Ihre Nachbarn sind
Die Äcker der Kindheit bergen alles
Das Künftige und die Vergangenheit
Aus den Äckern der Kindheit speist sich
Was Nahrung braucht