Manchmal frage ich mich, ob mein Leben anders verlaufen wäre, hätte es in meiner Kindheit schon das Internet gegeben, wie wir es heute kennen. Doch ich wuchs in den 80ern in einem Arbeiterhaushalt auf dem Land auf; ohne U-Bahn oder Elterntaxi. Nur der Schulbus fuhr, morgens hin und mittags zurück. Im Dorf gab es zwei jüngere Mädchen, mit denen ich oft spielte, für die übrigen Sozialkontakte war ich auf Familie und Schule angewiesen. Ich arbeitete auf unserem Nebenerwerbs-Bauernhof, war viel draußen, nachmittags und am frühen Abend sah ich fern; das Raumschiff Enterprise nahm mich mit in ferne Welten. Dazu kam das Lesen - und das Schreiben. Beides musste ich sowieso lernen - also wurde es mein Lebens- und Ausdrucksmittel. Über das Soll hinaus gab es nichts: Ich lernte kein Instrument, war in keinem Sportverein. Es gab kein Reiten oder Reisen. Aber zum Glück die Realschule im Nachbarort. Dort betreute ich drei Jahre lang die Schülerbibliothek, nebenan lag die überschaubare Gemeindebücherei mit ihren Jugendbüchern und Hörspielkassetten. Immerhin, die Lesefreude meiner Mutter bescherte mir die Bücher unterm Weihnachtsbaum und zum Geburtstag, beim Buchclub bestellt; ganz selten einmal kam ich nach Deggendorf in einen Buchladen. Stattdessen gab es die private Schmiede-Werkstatt meines Vaters und die Anregungen der Natur: Wald, Wiesen und Felder statt Kino, Theater oder Museen. Letztere entdeckte ich erst als Erwachsene, und meine Berufsorientierung beschränkte sich auf's Naheliegende. Erst die Lehre, dann ein Ingenieurstudium - damals noch ungewöhnlich für ein Mädchen, aber folgerichtig für die Tochter eines "Metallers".
Schriftstellerin wollte ich damals schon werden - doch das war unerhört. Ich wusste weder, wie man dazu kam, noch wo die anderen zu finden waren. Heute gibt es ja für alles und jedes ein Forum im Internet, Autoren und Autorinnen haben Webseiten und öffentliche Werdegänge. Bücher, Studiengänge, Verlage, Vorbilder - all das lässt sich im Netz viel leichter aufspüren - und dann live erleben. Oder eben online; die gegenwärtige Situation bringt oder zwingt uns dazu. Diejenigen, die jetzt seit Monaten fast nur im Home Office sind, die gezwungen sind den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu unterrichten oder unterrichtet zu werden; diejenigen, denen Videokonferenzen die Beratung oder Therapie ersetzen sollen - für die ist es hart. Und doch.
Für mich hat "dieses Online" seine Faszination noch nicht verloren. Natürlich spüre ich mein Gegenüber oder meine Schreibgruppe besser, wenn wir uns auch körperlich nahe sind; natürlich sollte das Studentenleben sich in Hörsälen und Kneipen abspielen. Doch wenn das nicht möglich ist (weil man zu weit weg wohnt, nebenher noch Geld verdienen muss oder weil gerade Pandemie ist), eröffnet das Internet tolle Möglichkeiten.
Ich empfinde es nach wie vor als Wunder, spüre noch immer die kindliche Freude wie damals am Dosentelefon. Mein Herz jubelt vor Freude, dass ich mich jederzeit, von überallher mit der Welt verbinden kann, mit Schreibpartnerinnen in Zürich oder Linz.
Ich stelle mir vor, wie ich damals, in meiner einsamen Kindheit, Online-Lesungen besucht, mich mit anderen Schreibenden ausgetauscht hätte, wie ich herausgefunden hätte, wohin ich gehen kann, um meine Möglichkeiten früher und breiter zu entfalten.
Vielleicht aber wäre ich auch eines der Kinder gewesen, die keinen eigenen Laptop besitzen und schlechten Zugang zum Internet haben.
Vielleicht wäre ich mit Internet gar keine Schriftstellerin geworden, denn das Abgeschnittensein von fast allem lehrte mich zu träumen und zu phantasieren.
Und viele Fähigkeiten, die ich in meiner analogen Kindheit und Jugend erworben habe, kommen heute auch online zum Tragen. Dass ich weiß, wie man sich durchfragt; wie man eine Nachricht zu bewerten hat, und dass ich einschätzen kann, was glaubwürdig ist und was nicht ...
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen erstens Zugang zu Online-Angeboten haben und zweitens diese auch kompetent zu nutzen lernen. Das ist für mich ein zentraler Baustein für gesellschaftliche Teilhabe und Mobilität.
Mir fehlt das Schreiben im Café: Versorgt mit einem Keks und Cappuccino, mein Notizbuch vor mir, einen Stift, das Handy in Griffweite. Nicht nachdenken zunächst, sondern aufschreiben, was kommt. Gedanken zum Tag, Erlebtes, Gefühle. Über das Schreiben und das, was mich scheinbar vom Schreiben ablenkt. Was noch nachhängt von dem, was im Außen so los ist: Büroalltag, Gespräche mit Kollegen, endlose To-Do-Listen und Termine. Ringen um Fokussierung, die schließlich mit Hilfe des Schreibens gelingt. Den Raum öffnen, Weite zulassen. Die Welt um mich versinkt und dennoch brauche ich sie: Das energische Klopfen, mit dem das gebrauchte Kaffeemehl aus dem Siebträger befördert wird. Das anschwellende Kreischen der Milchschaumdüse. Gelächter und Satzfetzen, die zu mir herüberwehen, von ratschenden Müttern oder Monteuren in Arbeitsklamotten. Das Klappern einer Laptoptastatur. Dass jemand da ist, wenn ich von meinen linierten Seiten aufschaue und innehalte. Und dann höre ich plötzlich diese Stimme in mir: „Früher hast du viel mehr gebloggt“, mault meine innere Schreiberin. „Ja, früher! Da hattest du auch mehr Ideen!“, halte ich ihr entgegen. Sie schweigt, ein bisschen beleidigt. Kein Wunder, denn wir wissen doch beide, dass Schreiben vom Schreiben kommt. Vom Hinsetzen und Tun, auch wenn die ersten Sätze stolpern.
Mir fehlt das Schreiben im Café, schreibe ich. „Das ist traurig“, sagt die Schreiberin. „Aber Schreiben kannst du doch immer, egal wo.“ Stimmt. Umso mehr jetzt, wo ich die seeligen Kaffeehausmomente heraufbeschworen habe. Ich fülle meine Teetasse und tu ein wenig so, als säße ich wirklich dort. Die Worte kommen.
mein vater der imker
meine mutter die gärtnerin
mein bruder der vierjährige
traktorlenker allein am waldrand
ich die traumwandlerin
meine mutter die talentierte
zeichnerin köchin duldsame
mein vater der kraftvolle schmied
mein bruder der versteckte
die streberin ich
die bücher
das eisen
das fahrrad
der marmeladentopf
das alte haus
unser fliegenfänger
seine äcker die wohlbestellten
ihr garten das paradies
mein bruder der ältere
ich die nicht weiß
wie ihr geschieht
mein vater der gerechte
und wir
die ewig
vertriebenen
ich habe ackererde
an den füßen
darunter die plätze
der steinernen stadt
ich habe das dach überm kopf
den kirschbraunen schreibtisch
und einen weißen aus schichtstoff
ich habe vier telefone
und so viele räume
dazu mein fahrrad, mein radio
handwerker und freundinnen
ich hab eine reihenfolge
für die wörter
und staune täglich
über ihre verschiedenheit
ich habe lange, altmodische flure
und die rote tür zur werkstatt
bei st. leonhard
hier schlägt mein herz
in der stille
Am 6. Januar verzeichnen die Volkshochschulen jeweils die höchsten Anmeldezahlen für ihre Kurse - das sagt die Statistik.
Nachdem alle Weihnachtsgeschenke ausgepackt (und unpassende bereits wieder umgetauscht) sind, die Weihnachtsgans oder das vegane Festtags-Curry verzehrt wurden, tritt bei vielen offenbar der Wunsch nach persönlichem Wachstum zutage. Die Zeit zwischen den Jahren gehörte der Familie und dem Freundeskreis - oder dem Alleinsein mit sich. Es war Zeit zum Innehalten, für lange Spaziergänge, genussvolles Lesen, absichtsloses Surfen. Zeit, in der Gedanken und Gefühle kommen durften, die im Alltag oft untergehen.
Neujahrsvorsätze wurden gefasst, Aufbruchstimmung macht sich breit: Mehr Sport, Spiel und Entspannung ins Leben holen. Sich eine neue Sprache aneignen, endlich die eigene Webseite einrichten, Vorträge hören. Nähen lernen, singen, einen Kochkurs machen.
2020 hat so viele Möglichkeiten. Wie 366 unbeschriebene Seiten. Jeder Tag ein Umblättern. Nicht nur einmal im Jahr.