Die Besucherin parkt das Auto unter einem Baum im Schatten und nähert sich dem schlichten Museumsgebäude. Erste Eindrücke von der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora bei Nordhausen: Ein friedlicher Ort. Erst recht an einem heißen, himmelblauen Tag im Juli. Da streicht der Wind durch die Bäume, Blätter rascheln sanft. Stille Wege queren das Gelände, und der Kohnstein schmiegt sich als bewaldeter Hügel in die Landschaft des Südharzes.
Sein Geheimnis gibt er erst auf der begleiteten Gruppenführung preis: Da geht es hinein in das Stollensystem, in dem Zwangsarbeiter noch V2-Raketen produzieren mussten, als das Ende des Dritten Reiches schon abzusehen war. Hier unten, wo es still und kühl ist, sollen Zigtausende von Menschen nicht nur unter schweren und schwer vorstellbar schlechten Bedinungen gearbeitet, sondern anfangs auch gelebt, geschlafen haben, bevor draußen das Barackenlager entstand?
Wir erfahren Fakten, doch unser Begleiter - kenntnisreich, respektvoll, unpathetisch - mahnt: Man möge gar nicht erst versuchen sich vorzustellen, wie es war; man würde nur einem Trugschluss erliegen. Ein Hinweis, der zugleich schrecklich und entlastend ist - falls es emotionale Entlastung geben darf an so einem Schauplatz unermesslicher Grausamkeit. Wir besichtigen nur einen winzigen Teil der Anlage, die von den russischen Alliierten teilweise zerstört wurde. Die produzierten Raketen wurden auf Schienen aus zwei Fahrstollen herausgefahren. Von den Gleisen ist heute kaum noch etwas zu sehen, wohl aber vom Lagerbahnhof.
Ich habe Bahnhöfe bisher immer als Orte des Fernwehs und der Vorfreude empfunden. Diese gemauerten und betonierten Quader jedoch waren für so viele Menschen die Endstation ihres Lebens! Von den 60.000 Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die das Lager in seiner kurzen Geschichte sah, starben 20.000.
Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist es möglich, sich noch einmal neu mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Neukonzeption der Gedenkstätte seit 2006 trägt dem Rechnung. Dabei beschränkt sich die Gestaltung der Außenanlagen auf das Notwendige, das Dokumentierte braucht keine Interpretation, um zu wirken. Das gesamte Gelände unterliegt dem Friedhofsrecht - dass es dabei wie eine weitläufige Parkanlage wirkt, ist kein Widerspruch. Schließlich ist es ein Ort des Todes und der Toten. Ein Ort der Trauer und des Nicht-Vergessens. Ein Ort, der zum Frieden mahnt.
Denn wir alle sind Schlafende, irgendwie - Menschen, in denen sowohl das Schöne als auch das Schauerliche schlummert, das uns je nach den Zeitumständen zu Täterinnen oder Opfern, Mitläufern oder Widerständigen formen kann. Die psychische Ausstattung der Menschen ist die gleiche wie vor 70 Jahren. Nur das Bewusstsein kann sich ändern.